Die zwei Ahmads – Flüchtlingsberatung hautnah

von Julia Schandri

„Am besten ist, du bleibst den ganzen Vormittag und übersetzt.“
Ahmad lehnte sich an die Wand. Auf dem einen Stuhl saß ein weiterer Ahmad. Er war verzweifelt. Seine Frau und die Kinder waren immer noch in Damaskus. Seit gestern mussten sie bei den Eltern wohnen, da sie das Gebiet, in dem sie bisher noch lebten, verlassen mussten.
„ Nein, so stimmt nicht. Sie konnten nach einem Besuch nicht zuruck in Wohnung. Frau und Kinder haben nix dabei, gar nix. Er fragt, wann du Botschaft anrufst.“
„ Was soll ich fragen?“
„Wann gibt Visum?“


Seit vielen Wochen kam der andere Ahmad zu mir ins Büro und legte jeden Tag ein Snickers für mich und sogar für Gernick auf den Schreibtisch. Ich sah in seine Augen und war gebannt vom Braun, von der Herzlichkeit und Seele, die ich darin erblickte.
„Sag ihm bitte, dass ich erst vor einer Woche eine Mail geschrieben habe. Ich kann nicht dauernd dort anrufen. Außerdem erreiche ich niemand. Es geht niemand ans Telefon.“
Der Dolmetscher Ahmad gab ein Geräusch des Verstehens von sich, auch wenn er selbst nicht alles Wort für Wort verstanden hatte, Er wendete sich dem anderen Ahmad zu und sprach harte Worte mit vielen Rachenlauten und As. Ich verstand nur: la la la. Ich wußte, dass es nein heißt, begleitet von heftigem Kopfschütteln. Nur dieses Kopfschütteln half nichts. Die Wirklichkeit war erbarmungslos.
Wie gebannt hörte ich dem Gespräch zu und beobachtete jede Regung im Gesicht der Araber. Sie lebten beide in der gleichen Unterkunft, für die ich zuständig war, als der sogenannte Sozialdienst.
Ahmad, der Familienvater schaute mich an. Er bat mich mit den Augen, ihm zu helfen. Ein Schmerz zuckte durch mein Herz. Diese Trauer, dieses Leid. Wie kann ein Mensch soviel davon in seinem Herzen unterbringen. Neben der Sehnsucht nach Frau und Kindern hatte es einen Platz in seinem ganzen Körper, und im Moment nahm es zu viel Raum ein.

„ I don´t eat“, er sprach mich direkt an, damit ich ihn doch endlich verstehe. Damit ich endlich handle und durch Zauberwerk seine Familie zu ihm bringe. Nur dieses Zauberwerk stand nicht zur Verfügung, war nicht in meinem Koffer, mit dem ich bei Arbeitsantritt ausgestattet wurde. Seine Stimme war ganz schwach, seine Haut weiß, er hatte eine starre Mimik. Jedes Wort fiel ihm schwer. Er litt an einer Art Blutkrebs. Was das genau bedeutete, wusste ich nicht.


„Ahmad, frag ihn doch mal, ob er vom Arzt ein Attest besorgen kann.“ „Attest?“ Ahmad Dolmetscher ging die Stimme nach oben. Sein tiefer Bass, der Sicherheit ausstrahlte, hatte die Bahn in den Kopf frei gemacht. Sag mir das neue Wort, erkläre es mir, sagten seine Augen. Das war Denkarbeit. Wenn er es verstanden hatte, die Kopfarbeit erledigt war, dann konnte er sich wieder in Sicherheit wiegen und die Stimme konnte wieder tief und sicher Worte transportieren. Im Moment waren es zu viele neue Worte auf einmal. Trotzdem lernte er unsere Sprache am schnellsten von allen. Ahmad Familienvater dagegen hatte den Kopf nicht frei für deutsche Worte. Nicht der kleinste Winkel war für das Lernen einer neuen Sprache zur Verfügung. Alles in ihm war von der Sehnsucht nach seiner Familie ausgefüllt. Englisch konnte er zumindest ein bisschen. Nur heute war es wirklich sehr hilfreich, dass Ahmad Dolmetscher keine Anstalten machte zu gehen. Er verbrachte den ganzen Vormittag an die Wand gelehnt. Ein Flüchtling nach dem anderen saß auf dem Stuhl. Manchmal waren es auch drei oder vier auf einmal, die sich in dem kleinen Büro drängten. Wir alle waren froh, dass Ahmad Dolmetscher schon so viele deutsche Worte gelernt hatte. Ich kam nicht auf die Idee, ihm etwas anzubieten. Kein Glas Wasser, keinen Stuhl, der eh keinen Platz gehabt hätte. Ich nahm seine Hilfe wie selbstverständlich. Er war mein Babelfish.